Peter
9 Uhr, ich bin spät dran, verabschiede mich Richtung Büro, wie jeden Tag viermal die Woche. Ich schließe die Wohnungstür hinter mir, will gerade die Treppe runtergehen, als ich eine klagende Stimme "Hilfe" rufen höre. Ich zögere - da ist es wieder: "Hilfe! Bitte helfen Sie mir!", klingt es aus der Tür nebenan. Ich kenne unseren Nachbarn nicht, habe ihn bisher immer nur kurz durch den Türspalt gesehen, wenn ein Pfleger ihn, der seit seinem Schlaganfall an den Rollstuhl gefesselt ist, besucht hat. Ich trete an die Tür der letzten unsanierten Wohnung unseres Hauses, durch dessen Garten so oft Kinderlachen hallt. Erinnere mich an die Gerüche, die beim Besuch des Pflegers ins Treppenhaus entfleuchen. Kalter Rauch, Krankheit, Alkohol.

Er bittet mich herein, sagt, ich solle den direkt hinter der Tür stehenden Rollstuhl einfach zur Seite schieben. Die Wohnung ist fast leer, die Möblierung alt und abgelebt, es scheint viele Jahre her zu sein, dass hier etwas Neues oder Farbenfrohes aufgestellt wurde. Ich wende mich nach links, zu der bittenden Stimme. Ein Mitfünfziger mit Vollbart liegt hilflos auf dem Rücken, nur mit einem T-Shirt bekleidet. Der Körper des halbnackten, streng riechenden Mannes liegt größtenteils in dem winzigen, uralt erscheinenden Badezimmer, das nur aus einer Toilette und einem Waschbecken besteht. Wimmernd erzählt er: "Ich bin heute nacht um zwölf von der Toilette gefallen. Seitdem liege ich hier. Mein Bein ist eingeklemmt. Bitte hilf mir."

Sein abgemagerter Oberschenkel hat sich grotesk in einer Armlehne verhakt, die eigentlich eine Hilfe beim Toilettengang sein sollte. Doch das ist nicht das einzige Problem: Bei dem Sturz hat der Fuß sich unter den Abflussrohren verkantet. Ich fühle mich hilflos. Warum ich? Kann ich nicht seinen Pfleger rufen? Oder einen Krankenwagen? Was habe ich hiermit zu tun? Ich kenne diesen Menschen doch gar nicht. Und was soll ich überhaupt tun? Wie soll ich dieses Bündel Haut und Knochen anfassen, ohne ihn noch weiter zu verletzen? Er versucht mich zu beruhigen: "Keine Sorge, wir schaffen das schon." Sollte ich nicht eigentlich versuchen, ihn zu beruhigen?

Bei jedem Versuch das Bein zu bewegen und zu befreien, leidet, wimmert, stöhnt er. Ich habe Angst, will überall sein, aber nicht hier. Mal haben wir den durch die Armlehne abgeschnürten Oberschenkel zusammen fast befreit, aber der Fuß ließe sich nur weiter bewegen, wenn man ihn bricht. Beim nächsten Mal ist es andersherum. Ich betrachte mich von außen, wundere mich, wie ruhig ich auf einmal bin. Irgendwann, nach zehn oder zwanzig Anläufen sind Bein und Fuß befreit, mein Nachbar sitzt wieder in seinem Rollstuhl. Er bedankt sich immer wieder, will meinen Namen wissen, verrät mir seinen und richtet der Prinzessin, die er ja gelegentlich höre, schöne Grüße aus. Ich verabschiede mich, wünsche ihm alles Gute. Ich traue mich nicht, meine Hände zu Hause zu waschen, da unser großzügiges Badezimmer mit Eckbadewanne direkt an seine kleine Toilette grenzt. Befürchte, er könnte es hören. Seine intensiven olfaktorischen Spuren entferne ich daher erst im Büro von meiner Haut. Seit diesem Tag habe ich meinen Nachbarn nicht wieder gesehen, aber sein Geruch blitzt noch manchmal wie eine Erinnerung in mir auf.

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lennyundkarl, Mittwoch, 6. Juni 2007, 12:26
Irgendwie auch traurig oder? Wenn du öfter dran denkst, wie wärs denn, mal zu klingeln mit einem Stück Kuchen und auf eine Tasse Kaffee hinein zu gehen? Ist doch eigentlich schade, dass man so nah beieinander wohnt, aber doch einfach nur nebeneinander lebt, oder?

kreuzberger, Donnerstag, 7. Juni 2007, 11:18
Mit den meisten Nachbarn ist es bei mir im Haus anders. Man sitzt im Garten zusammen, trifft sich auf einen Kaffee... Dieser sitzt dagegen - von gelegentlichen Besuchen eines Freundes abgesehen - allein in seiner Wohnung im zweiten Stock, von der ich nicht weiß, wann er sie zuletzt verlassen hat. Schon traurig - vielleicht besuche ich ihn wirklich mal...